Eine schamanistische Reise in der berühmtesten Ruinenstadt der Welt
Der Höhepunkt einer Peru-Rundreise vor einem guten Jahrzehnt war ein dreitägiger Trip nach Machu Picchu, eine der legendärsten Ruinenstädte der Welt und der vermutete Sommersitz des Inkas. Die verschollene Stadt wurde 1911 vom Archeologen Hiram Bingham, dessen Leben George Lucas als Inspiration zur Figur des Indiana Jones diente, offiziell wiederentdeckt.
Heike und Günther, meine beiden Begleiter, und ich, wir hatten das grosse Glück, dass Ruben Orellana, der ehemalige Chefarcheologe von Machu Picchu, bereit war, uns zu begleiten. Ein Zug brachte uns von Cusco bis zu Kilometer 88, wo unsere mystische Reise auf den Inkatrails – einem Wegnetz, das von den Inkas vor Jahrhunderten über die Anden gelegt wurde und die damaligen Dörfer und Städte miteinander verband – begann.
So wanderten wir also auf diesen uralten Wegen und fühlten uns fast ein bisschen wie jene Pilger auf dem Jakobsweg. Bei uns war das Ziel keine Kathedrale, sondern eine der wohl bedeutendsten und schönsten Ruinenstädte überhaupt – magisch gelegen auf einem Bergrücken über dem Urubambatal, etwa 75 Kilometer entfernt von Cusco, der ehemaligen Hauptstadt des Inkareiches.
Ruben hatte während den Jahren als Feldforscher in den umliegenden Urwäldern von Machu Picchu mehrere Dutzend weitere Ruinenstätte frei gelegt. So war er eben nicht nur ein begnadeter Entdecker, sondern er verstand sich selbstverständlich auch auf die Botanik, die Zoologie und andere Zweige der Wissenschaft, auf die sich unsere vielen Fragen bezogen. Ständig tauchten neue Pflanzen- oder Tierarten auf, zu welchen er uns natürlich immer etwas zu erzählen wusste.
Unsere Absicht war es, am dritten Tag früh morgens das Sonnentor zu erreichen, das dem frommen Pilger das erste Mal den Blick auf diese göttliche Stadt freigibt. So logierten wir am Abend vorher in einer einfachen Herberge, von der aus wir zu jenem Tor nur noch etwa eine gute Stunde Fussmarsch haben sollten.
Beim Abendessen führten wir eine Diskussion über Schamanismus, während jener Ruben uns eröffnete, dass er neben seiner Tätigkeit als Archeologe auch als Schamane tätig wäre. Vollkommen begeistert von dieser Neuigkeit, fragten wir ihn, ob nicht die Möglichkeit bestehen würde, am anderen Tag in der Ruinenstadt ein schamanistisches Ritual durchzuführen.
Und tatsächlich – unser Führer hatte uns richtig eingeschätzt und die für ein solches Ritual notwendigen Utensilien mitgebracht. Wir waren überglücklich und konnten den folgenden Tag kaum erwarten.
Beim Sonnentor den Sonnenaufgang mit Blick auf Machu Picchu zu erleben – dieses Erlebnis brannte sich in meinem Gedächtnis ein. So oft schon hatte ich diese Stadt auf Fotos betrachtet, doch sie zu jener Tageszeit das erste Mal mit eigenen Augen zu erblicken, war einfach unbeschreiblich.
In den folgenden Stunden bis zum frühen Nachmittag schauten wir uns die Stadt ohne unseren Führer an, der sich auf jenes Ritual einstimmte. Da die Touristenbusse nur bis drei Uhr fuhren, waren wir, abgesehen von ein paar Alpakas, plötzlich mutterseelenallein und hatten Machu Picchu ganz für uns.
Plötzlich tauchte aus dem Nichts Ruben auf und führte uns in eines der vielen kleinen unbedachten Wohnhäuser, wo er uns bat, es uns auf dem Boden möglichst bequem zu machen. Er entnahm seinem Rucksack eine Flasche mit einem dickflüssigen Gebräu, von dem jeder von uns einen kleinen Becher voll trinken musste. Er erklärte uns, dass dieser giftgrüne, eklige Saft aus dem San Pedro-Kaktus gewonnen worden war und unsere scheinbar vollkommen abgestumpften Sinne durch die Wirkung des Halluzinogens Meskalin, das in jenem Trank enthalten war, geöffnet werden sollten. Als nächstes klaubte er eine Rassel aus seiner Tasche, bat uns, die Augen zu schliessen und begann nun, diese in einem schnellen, rhythmischen Puls zu bewegen. Gleichzeitig liess er einen seltsamen Singsang in jener alten Inkasprache, dem Quechua, ertönen.
In diesen folgenden Sekunden wurde mir unmittelbar bewusst, in welch seltsame Situation ich geraten bin, ohne dies auch nur ansatzweise geplant zu haben. Ich musste mich wirklich beherrschen, nicht gleich lauthals loszulachen. Irgendwie war es bizarr – ich kam mir vor wie in einem Film. Doch dämmerte mir nun auch, welches Glück ich hatte, Ruben und meine beiden Freunde überhaupt getroffen zu haben: ein solches Ritual in dieser Stadt, nur wir vier – einfach fantastisch! Und nun wich meine Aufgeregtheit einer angenehmen Ruhe, die mich immer mehr erfüllte und ich liess mich in jenen ungewohnten Klängen dahintreiben. Nach einer gewissen Zeit wurde er leiser und hörte schliesslich auf. Er liess uns die Augen wieder öffnen, wir packten zusammen und verliessen das Gemäuer.
Der nächste Halt war ein Ort innerhalb der Stadt, wo er uns zeigen konnte, wie die zum Teil dutzende Tonnen schweren, akkurat gemeisselten Felsquader bewegt wurden: Holzrollen waren unter einem jener Steingiganten noch immer zu sehen. Wir spazierten weiter und kamen zu einem nochmals grösseren Felsen, bei welchem er uns bat, unsere Handinnenseiten ganz knapp an dessen Flanken zu legen, ohne diese jedoch zu berühren. Wir sollten für uns jene subtile Energie, die in fernöstlichen Kulturen Chi genannt wird, erspüren. Meine damals noch übergrosse Skepsis solchen Phänomenen gegenüber machte es mir anfänglich schwer, irgendetwas zu fühlen. Günther hatte als eingefleischter Naturwissenschaftler diesbezüglich aber noch ganz andere Probleme – er konnte zu jenem Zeitpunkt die ganze Sache noch nicht wirklich ernst nehmen. Doch auch ihn packte eine seltsame Faszination und er liess nicht locker.
Heike war von uns dreien sicher die am weitesten Fortgeschrittene – ihr schien alles ein bisschen leichter zu fallen. Nach einigem Üben waren wir dann alle drei doch plötzlich überzeugt, etwas, was von jenem Stein ausgehen sollte, wahrzunehmen. Wir waren begeistert, zugleich aber auch irritiert: unser Schamane eröffnete uns eine ganz neue Welt, von der wir vorher lediglich vom Hörensagen etwas wussten.
Ruben führte uns nun zum zentralen Platz von Machu Picchu, wo wir uns bei einer Mauer niederliessen, um weitere Übungen zu machen, die jenen sechsten Sinn trainieren sollten. Bis jetzt glaubte ich, obwohl seit der Einnahme jenes Zaubertrankes sicher schon zwei Stunden vergangen sein mussten, noch überhaupt nichts von einer viel früher erwarteten Wirkung zu spüren. Ruben machte jedoch irgendeine lustige Bemerkung, welche bei uns allen einen mehrminütigen, bereits „schmerzhaften“ Lachanfall auslöste. Irgendwie waren wir schon ein bisschen „auf Drogen“, aber auf ganz angenehme Weise.
Beim Weitergehen wurde es mir überaschenderweise plötzlich doch übel und ich berichtete Ruben darüber. Er kramte aus seinem Rucksack einen „Agua Florida“, einen Kräuterschnaps, liess sich vor mir auf seine Knie nieder, nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und ohne ein Zögern hob er mein T-Shirt an und spie das Ganze auf meinen Bauch. Ich war perplex. „Was tat dieser Mensch, erdreistet sich…“ er unterbrach meinen aufkommenden Ärger und fragte mich, ob ich diese Übelkeit immer noch empfinden würde. Angestrengt versuchte ich jene wieder zu finden, doch sie war einer wohltuenden Hitze, die meinen ganz Unterleib erfüllte, gewichen.
Es begann zu dämmern und wir erlebten in den folgenden Minuten den spektakulärsten Sonnenuntergang aller Zeiten – dies bildete ich mir mindestens ein.
Es war nicht etwa so, dass wir halluziniert hätten, aber – Ruben hatte es uns zu Beginn ja bereits mitgeteilt – wir nahmen lediglich alles je länger umso intensiver war – Farben, Geräusche und Klänge. Üblicherweise war ich fast ständig damit beschäftigt, irgendetwas zu denken und zu beurteilen und befand mich meistens irgendwo in der Vergangenheit oder der Zukunft. Und nun realisierte ich, dass mich eine Kraft unaufhaltsam in die Gegenwart brachte – ins Jetzt.
Wir wanderten weiter, stiegen einen kleinen Hügel hinauf und stiessen auf den Opferstein, der einige Wochen vorher bei Filmaufnahmen von einem umfallenden Gerüst an einer der Spitzen verletzt wurde.
Die Nacht begann schnell hereinzubrechen und wir nahmen auf einer grossen Felsplatte Platz. Ruben forderte uns auf, einen Stern am Firmament auszuwählen, diesen uns gewissermassen zu Eigen zu machen und ihn in unser Herz zu schliessen. Dies würde von jetzt an unser Glücksstern sein, meinte er. Auf jeden Fall – alles wurde immer magischer.
Nach einer längeren Meditation gingen wir weiter und erreichten Minuten später eine kleine, für Touristen gesperrte Höhle – der Ort, an dem scheinbar alle Kinder auf die Welt gebracht wurden. Wir setzten uns hin und er liess mit Hilfe seiner Taschenlampe einen transparenten Stein in der Form eines Eis vor unseren Augen aufleuchten. Wir sollten uns nun vorstellen, dass ein Lichtkörper in exakt dieser Form unseren grobstofflichen Körper umschliessen würde. Er erklärte uns, dass je mehr wir dieses Bild immer wieder visualisieren würden, desto eher würden wir vor schlechten Energien geschützt sein. Nun waren wir definitiv bei den „Prophezeiungen der Celestine“ angelangt, jenem berühmten Esoterik-Abenteuerroman, der einige Jahre zuvor von James Redfield verfasst wurde und interessanterweise am Ende der Geschichte auch in der Gegend von Machu Picchu spielt. Ich war schlicht und einfach überwältigt – welch ein Abenteuer!
Wir verliessen die Stadt und überquerten einen Platz, in dessen Mitte sich uns ein Monster entgegenstellte – eine Spinne in der Grösse meiner Hand und mit unendlich langen Beinen. Ruben kniete sich nieder, legte seine Hand neben sie und begann etwas zu murmeln. „She is my friend!“ Teilte er uns dann mit. Wir waren sprachlos.
Er drängte uns weiterzugehen. Er steuerte auf ein Hotel zu, das sich unmittelbar neben diesem Platz befand. Drinnen angekommen marschierte er in die Bar und wir trotteten hinter ihm her. Als erstes erblickte ich zu meiner Linken peruanische Musikanten – drei fahle Gestalten, die Marionetten gleich vor sich hin spielten. Ich drehte mich zum Barkeeper, der mit Ruben zu sprechen begann, und vor Lebendigkeit und Glück nur so strahlte. Rechts tauchten in meinen Augenwinkeln nun drei Frauen auf, die mir aber eher wie drei graue Puppen erschienen und mich aus glasigen Augen angrinsten. Ich war nun tatsächlich überfordert – bildete ich mir dies alles nur ein? Es schien so, als ob ich alle diese Menschen durchleuchten könnte. Ich fragte Heike und Günther, ob sie dies auch so erleben würden und zu meiner grossen Überraschung bestätigten sie beide meinen Eindruck. Ruben, dem wir unser Erlebnis ebenfalls schilderten, erzählte uns, dass jene drei Frauen offenbar schwer krank wären und eine von ihnen sogar Krebs im Endstadium hätte. Selbst der taffe Unternehmensberater Günther, der vorher nur über alles Witze reissen konnte, war erstarrt vor dieser seltsamen Entwicklung jenes Abends, der mindestens mein Weltbild vollkommen verändern sollte.
Irgendwie erschüttert machten wir uns auf den Weg ins Tal nach Aguas Calientes und ich liess die vergangenen Stunden nochmals Revue passieren. Erst jetzt wurde mir klar, was ich vorher in der Ruinenstadt durchlebt habe – es war das Leben selbst. Nachher in jenem Hotel war es der Tod, dem ich für einen kurzen Moment in die Augen geschaut hatte. Um jenes Initiationserlebnis richtig abzuschliessen, griffen die Götter offenbar persönlich ein und verdeutlichten uns durch diesen ganz starken Kontrast noch mehr, welche aussergewöhnliche Glücksmomente wir in jener sagenhaften Stadt erleben durften.
Und was lernen wir aus dieser Geschichte: „Leute, haltet Euch von Drogen fern;-)))!“
Alle Fotos @ Andreas C. Fischer
Reto Locher meint
Sehr schöne Geschichte.
Habe Ähnliches in Japan erlebt, mit Roshi Bernie Glassmann (siehe http://www.integral-secrets.com)
Darf ich Dich noch etwas Gärtnerisches fragen? Ich suche ein japanisches Gartentor – mein altes fällt auseinander. Kennst Du zufälligerweise jemanden, der mir das liefern könnte?
Mit Dank für die Geschichte und eine eventuelle Antwort grüsst Dich herzlich
Reto